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SCHLECHTERTEXT

Kinolocaust

 

Vor unbeschreiblichem Zorn bebend halte ich dem Jacqueline-Sandy-Prototypen in der Sitzreihe hinter mir eine doppelläufige Mettwurst an den Schädel und rufe "Noch ein Wort! Sag noch ein beschissenes Wort!" Schweißgebadet schrecke ich hoch, die Mettwurst noch immer fest umklammert. Ich ahne, dass der gestrige Tag mich so schnell nicht wieder loslassen wird.

Es sollte eigentlich ein schöner Sonntagabend werden, doch hätten wir schon vorher gewusst, worauf wir uns einlassen, hätten wir uns vermutlich noch in der beschaulichen Geborgenheit unserer eigenen vier Wände die letzte Ölung verpasst. "Zwei Tickets für The Conjuring 2", höre ich mich noch sagen, unwissend, dass mich die nächsten zwei Stunden an den Rand gänzlicher enthemmter Tötungswut treiben würden. Meine Mitbewohnerin verspätet sich, als würde sie versuchen, das Unausweichliche hinauszuzögern. Mal abgesehen von der Tatsache, dass Pünktlichkeit seit einigen Jahren nur noch was für Leute mit Krawatten und Halbglatzen ist. Doch die Karten sind gekauft. So wenig Geld für so viel Agonie. Die Mitbewohnerin hat noch Bock auf Süßkartoffelfritten. Eine letzte Gnadenfrist. Vor den Kinosälen dröhnen die verblödeten Massen, als hätte Deutschland den Dritten Weltkrieg ausgerufen - ein Hauch aggressiver Euphorie. Filme der Zukunft werden von ungewaschenen Kennern analysiert, deren halbgekautes Popcorn sich währenddessen einen Weg aus dem Mund in die Freiheit bahnt. Mädels in engen Hosen kichern beschämend dumm über den noch dümmeren Sexismus ihrer Stecher.

Dann der Eintritt ins Heiligtum. Schwarze Schwärze schimmert blau und die Kinoleinwände der Gegenwart sind Halbellipsen. Aha. Ich war nicht bereit, das Jahresgehalt und den Erstgeborenen für lauwarme Nachos einzutauschen, also lasse ich mich hungrig aber positiv überrascht in einem der breiten, weichen Sitze nieder. Guter Platz. "Ey, läuft bei dir", höre ich einen der schätzungsweise acht Zwölfjährigen zu einem seiner Genossen sagen, die sich in der Reihe vor mir niedergelassen haben, und ringe trotz des passenden Timings mit spontanen Gewaltfantasien. Seiten kurz, oben lang, acht identische Jogginghosen. Ich habe die Hände in den Jackentaschen und zerknülle mit verschwitzten Fingern das Kinoticket, das ich mit der Linken zu packen kriege.

Rechts neben mir sitzt ein stämmiger Typ mit Kevlarbart und Feinripppullover. Einen Platz weiter seine Freundin, die sich schon jetzt in seinen Arm krallt, als wäre er die letzte Bastion zwischen zweitklassigen Horrorfilmen und ihrer seelischen Unversehrtheit. Wahrscheinlich hat er ihr erzählt, dass heute irgendwas mit Ryan Gosling laufen würde. Auf der linken Seite nimmt gerade eine der engen Hosen Platz, deren Freund - auf dessen Cap in fetten Lettern "Bitches and Cocaine" steht - sie bestimmt irgendwann respektiert, wenn sie seine Respektlosigkeit nur oft genug mit verblödeter Naivität und Schwanzlecken belohnt. Ich stelle fest, dass sie hässlicher ist, als sie es sein müsste, und versuche, die letzten Minuten vor dem Takeoff damit zu verbringen, im Halbdunkel möglichst cool auszusehen.

Ohnehin schon gedimmte Lichter werden in die völlige Bedeutungslosigkeit gedimmt. Es geht los. Als hätten sie nur auf das Startsignal gewartet, beginnen die halbstarken Kids in der vorderen Reihe mit dem Einsetzen der Werbung zu grölen, sich mit Popcorn zu bewerfen und in ungebremster Lautstärke ihren individuellen Sittenverfall abzufeiern. Scheiße, denke ich mir. Schlechter Platz. Berauscht von der Vorstellung, in wenigen Minuten den scheinbar ersten Horrorstreifen ihres noch so jungen, aber hoffentlich kurzen Lebens zu sehen, werden sie zum lärmenden Äquator des Kinosaals. Ich toleriere. Ich ignoriere. Die ersten Filmszenen flimmern über einen Bildschirm, der ungefähr so groß ist wie Luxemburg. Eine englische Schule in den Siebzigern. Ein viel zu junges Mädchen bittet ihre Freundin, ihre Zigarette zu halten. "Ayy, die hält die Zigarette, ne!", schallt es plötzlich aus der Reihe hinter mir. Verstört drehe ich mich um und blicke in den Popcorn schlingenden Abgrund menschlicher Evolution. Ich muss an Nietzsche denken und bevor der Abgrund auch in mich blickt, konzentriere ich mich lieber wieder auf die Leinwand.

Leichter gesagt als getan. Die Geräuschkulisse erinnert an einen Mastbetrieb. Es ist nie cool, wenn man Spucke hören kann. Na ja, fast nie. Als wenig später eine dämonische Nonne ihren ersten Auftritt hat - den ich wegen ständig durchs Bild torkelnder Nachzügler nur am Rande mitbekomme -, kämpft die halbe Besatzung mit von Schreikrämpfen begleiteten Herzrhythmusstörungen. Ein gutturales Crescendo. Wenige Filmszenen passieren die Zuschauer unkommentiert. Meine Mitbewohnerin gleitet geräuschlos über die Limits ihrer Toleranz hinweg und bittet den Pöbel auf den billigen Plätzen ums Fressehalten. "Anzeige ist raus!", rufe ich hinterher und gebe zitternd dem Opa in mir nach. Die pochende Ader auf der Stirn meiner Mitbewohnerin sticht mir selbst im nur von dämonischen Nonnen diffus beleuchteten Dunkel in die Augen. Beim Scheißesein erwischt worden, doch die soziale Kompetenz währt nur kurz. Zwei Minuten später werden die nächsten offensichtlichen Elemente der Handlung ungläubig nacherzählt oder vom bildungsfernen Kollektiv angeschrien. Die Freundin des Typen zu meiner Rechten hat sich mittlerweile mit dunklen Plastiknägeln durch dessen weißen Feinripppullover geschabt, und mir fällt es zunehmend schwer, das Tosen des Films und das der amorphen Masse Blödheit, die wie ein gestrandeter Fisch in ihren Sitzen zappelt, zu unterscheiden.

Mit leichtem Tinnitus und dem Verlust unserer Menschlichkeit im letzten Drittel des Films angekommen, sind meine Mitbewohnerin und ich endlich vollständig assimiliert. Stumm nicken wir uns zu, jedes Wort wäre zu viel. Die Polka des Untergangs beginnt. Mit vereinter Kraft schleudern wir ein zwölf Kilo schweres Käserad durch die Leinwand und leeren dabei in synchroner Perfektion unsere Blasen. Die Gummibärenbande in der vorderen Reihe beginnt zu jaulen und zu wimmern. Ihre animalischen Instinkte lassen nur einen Schluss zu: Die Schlacht um die Dominanz des Rudels ist verloren. Kreischend leeren wir unsere mit Joghurt gefüllten Hosentaschen in den Schoß unseres jeweiligen Sitznachbarn. Eine orgasmische Fusion ins Asoziale. Manchmal ist Terror doch die Lösung.
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